RACHMANINOW
Konzert Nr. 3 d-Moll op. 30 für Klavier und Orchester (1909)
Philharmonie Baden-Baden
Dirigent: Carlos Domínguez‑Nieto

Freitag, 24/11/2023, 20 Uhr
Kurhaus Baden-Baden, Weinbrennersaal
Kaiserallee 1, Baden-Baden
https://philharmonie.baden-baden.de/philharmonie-baden-baden-2023/

Sonntag, 26/11/2023, 19 Uhr
Künstlerhaus am Lenbachplatz
Lenbachplatz 8, München
https://pianistenclub.de/index.php/events/aktuelles-programm/veranstaltung/300

Sergej RACHMANINOW (1873–1943)
Konzert Nr. 3 d-Moll op. 30 für Klavier und Orchester (1909)

Dieses Konzert ist die Erde, der Himmel und das Meer. Und ein Mensch, der dort seinen Platz findet, sich alles ansieht und alles spürt. Ja, der Mensch ist allein – der Welt, der Natur gegenüber, zwischen der Erde unter seinen Füßen und dem Himmel. Er ist ein Teil dieser Welt, ein beobachtender, wahrnehmender Teil. Mein Lieblingsmythos ist der von Daedalus und Ikarus. Glauben zu können, dass man etwas kann. Und dann Rachmaninow, der von Geschwindigkeit fasziniert war – Auto, Motorboot, immer schneller sein… Keine Geschwindigkeit wird jemals genug sein, denn das ist nicht das, wonach wir suchen. Fliegen können ohne alles, ohne Treibstoff, ohne Metall. Die Erde hinter sich lassen, das Wasser, das eigene Gewicht. Fliegen heißt frei sein. Im 3. Satz verlassen wir die Erde, um zu fliegen. Da kann man es. In dieser Musik fliegt man. Wie ein Vogel, der mit offenen Flügeln hoch in den Himmel schwebt, der die Luft spürt, die ihn trägt, und der seinen Kurs bestimmt, indem er seine Muskeln, Flügel und Federn spielen lässt. Dieses Konzert ist so schwierig, so komplex, dass es so viele Ressourcen und körperliche wie geistige Fähigkeiten, Gedächtnis, Technik, Vorstellungskraft und Ausdauer erfordert. Fast zu viel Kraft könnte man sagen… Nach 4 Monaten Arbeit bin ich soweit, die Kraft nicht mehr aufbauen zu wollen, mich noch mehr zu perfektionieren (zu dressieren…) und abzuhärten. Es ist nicht die Kraft, die ich suchen oder finden muss. Ich habe genug davon, ich habe zu viel. Das Konzert fängt an, in mich einzudringen, und es beginnt, aus mir zu strömen. Und nicht mehr ich bin es, die es mit meiner Technik und meinen Kräften meistert. Das brauche ich nicht mehr. Es gibt keinen idealen Flug, der den Erwartungen der Öffentlichkeit an Perfektion entspricht. Es gibt einfach einen Flug oder es wird ihn nicht geben. Aus Noten werden Flügel… Und ja, wir können es. Menschen können fliegen. Wir können frei sein… So viele Noten! Es ist manchmal hoffnungslos, ein Takt mit 76 Noten… Und jede Note ist kostbar, wie jedes Blatt an einem Baum oder jeder Grashalm, jede Wolke… Rachmaninow – niemals pathetisch. Groß – ja. Und ehrlich. In einer Abfolge von Akkorden, selbst in Wiederholungen, ist nichts gleich, nichts setzt sich identisch fort. Keine Haltung, keine Gestaltist festgelegt, alles moduliert, fließt, alles verändert sich ständigund unendlich. Jede Bewegung der Hand provoziert eine andere Bewegung, bewirkt, dass sich alles um uns herum verändert, nichts ist isoliert…

Aglaya Zinchenko. November 2023

Satz I
Das Thema: dreizehn Noten. Zwei Hände spielen das Gleiche, unisono.
Es wiegt, es erhebt sich mit sanfter Anstrengung und fast unmerklich – um wieder zu fallen, unweigerlich wieder nach unten zu gehen, Schritt für Schritt zurück zu der Anfangsnote.
Das gleiche Thema im Orchester – umspielt von den Sechzehnteln des Klaviers.
Eine erste Klavierkadenz in A-Dur spült alle vorherigen Spuren weg.
Zweites Thema: Frieden, Offenheit, Zärtlichkeit. Anlaufende Wellen. Wasserspiele.
Bewegung der verschiedenen Ebenen.
Die Solo-Klavierkadenz (es gibt zwei Varianten – ich spiele die ursprünglich geschriebene und sehr selten aufgeführte Kadenz; für mich ist sie die Zusammenfassung des ganzen Konzerts, um einiges länger als die spätere Variante, komplexer, dafür stimmiger: ein Klavierwerk für sich) hat ihren Ursprung in der ersten Terz des Themas. Flut, Hurrikan, unbezähmbare und unbarmherzige Natur. Herannahender Sturm, ohne nachzulassen, hereinbrechendes Wasser mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes. Das erste Thema ist in zwei Ebenen zerrissen – oben und unten, zerrissen in zwei Bereiche, einen himmlischen und einen irdischen. Und in der Mitte befindet sich ein menschliches Wesen, das seinen Platz sucht.
Sonne, Triumph, Verzückung. Das Wasser in D-Dur umhüllt alles.
Und verwandelt sich blitzschnell in Regen.
Verklärung. Kurze Erinnerung an das zweite Thema – Frieden.
Einsamkeit. D-Moll. Erstes Thema.
Das Wasser zieht sich schnell und wie unmerklich zurück, nimmt den gesamten Satz mit sich.

Satz II
Einleitung vom Orchester allein: das Thema. Die Ruhe des Abends.
Dann der Klavierpart ohne Pause bis zum Orchesternachspiel:
1. Variation des Themas in Des-Dur. Sehr warm, umhüllend.
2. Variation des Themas in f-Moll: Klippen, nass von sich brechenden Wellen.
Meno mosso: Möwen.
3. Variation des Themas in B-Dur: Naturgewalt. Schmerzlicher Aufstieg. Flut.
4. Variation des Themas in Des-Dur: Glückseligkeit. Eingeweide der Erde, schwarzen feuchten Lehm mit bloßen Füßen treten, nichts loslassen – nicht für eine Sekunde, nicht eine einzige Note, mit allen Sinnen dieses Glück empfinden, das flüchtige Glück, das mit seiner Intensivität schmerzt und selig macht… (ist das nicht dasselbe?)
Poco più mosso (fast ein Ersatz für den abwesenden schnellen Satz der viersätzigen Form): ein Walzer aus dem Jenseits, tanzende Schatten in einem alten Schloss, deren Kleidung zu Staub zerfällt, wenn man sie berührt. Wie eine Traum-Erinnerung, wie der Klang eines alten Radios, mit den Stimmen von Menschen, die schon lange tot sind. Das Thema des ersten Satzes (!) vom Orchester verändert, bis es nicht mehr erkennbar ist (der Rhythmus, die Tonart, die Stimmung, das Tempo – alles ist völlig verändert, und dennoch ist es DAS Thema des Konzerts), umspielt von den Sechzehnteln des Klaviers. Schloss der Vergangenheit, Geheimnis unserer Erinnerung, Traum, der die Realität verändert, ohne dass wir uns dessen bewusst werden…
Orchesternachspiel: das Thema. Der Kreis hat sich geschlossen.
Der Durchgang – die Brücke – zum 3. Satz Attacca (= ohne abzusetzen).

Satz III
1. Thema, 2. Thema, 3. Thema: Alles geht vorwärts. Der eigene Wille? Ein Motor? Ein Zug? Der Fortschritt selbst?
Meno mosso des 3. Themas in G-Dur: frei, offen, ehrlich.
Erster Flug…
Mitte des Satzes: Scherzo. Funkelnd, sprudelnd, Wassertröpfchen in der Sonne. Ironisch, froh, witzig. Licht. Champagner extra brut, sehr kalt.
Ferne Erinnerung an das 2. Thema des ersten Satzes. Frieden.
Runde rote Abendsonne, am Horizont langsam sinkend.
Reprise…
Der gleiche Flug wie am Anfang, aber noch freier, in F-Dur.
Abschlussteil des Konzerts: Coda, Vivace. Und das ist die Rückkehr der Kadenz des 1. Satzes, modifiziert, diesmal zusammen mit dem Orchester, streng rhythmisch, unaufhaltsam wie eine Lokomotive oder ein galoppierendes Pferd. Der architektonische Kreis des Konzerts schließt sich.
Und anstatt in die Einsamkeit des Anfangs zurückzukehren (wie im 1. Satz nach der Kadenz) durchbricht man den Kreis und verlässt ihn endgültig. Mit offenen Augen in die neue Welt. Glück, die ultimative Freiheit in D-Dur,  alles ist da. Man fliegt über der Welt, immer höher, man beginnt (setzt fort) einen (un)möglichen Aufstieg in unvorstellbare Höhe…
Und man schwebt.
Frei.